Ohne Inhalt – eine Replik auf Gauland

Einen großen Aufschrei zog die Veröffentlichung eines Meinungsstücks des AfD-Vorsitzenden Gauland in der ehrwürdigen Frankfurter Allgemeinen Zeitung nach sich. Von Vertretern eines klar linken Milieus auf Twitter, für die die FAZ selbst an besseren Tagen eigentlich nur ein auf intellektuell getrimmtes Propaganda-Blättchen für böse Konservative ist, kommt scharfe Kritik: Mit dieser Veröffentlichung legitimiere man den Rechtsradikalismus der AfD! Es entstünde gar der Eindruck, dass diese Partei gesellschaftlich akzeptiert sei.

Nun darf man einer Partei, die an der Seite von Straftätern wie Lutz Bachmann “Trauermärsche” vollzieht, in deren Windschatten sich Neonazis tummeln und Ausländer durch die Straße jagen, mit Fug und Recht eine gewisse Entfremdung zum freiheitlich-demokratischen Konsens unserer Gesellschaft attestieren. Herr Gauland reitet auf und orchestriert sehenden Auges diese Welle von Verfassungsfeinden, die sich nichts sehnlicher wünscht als einen “Systemwechsel“. Die AfD ist von rechtsradikalen Strukturen durchwuchert und man muss es Alexander Gauland persönlich zum Vorwurf machen, dass er diese Kräfte in seiner Partei gewähren lässt. So weit, so richtig. Muss man diesem Mann also eine Bühne geben? Nein. Aber es gibt auch keinen zwingenden Grund, es nicht zu tun.

Die FAZ publizierte nämlich schon Texte manch kontroverser Persönlichkeit, wie zuletzt des türkischen Autokraten Erdogan, der  deutsche Journalisten unter windigen Ausreden in seine Gefängnisse wirft, um sie als politisches Faustpfand zu missbrauchen. Man könnte also auf den Gedanken kommen, dass es durchaus konsequent ist, Herrn Gauland an gleicher Stelle zu Wort kommen zu lassen. Schließlich legen seine Äußerungen nahe, dass er in Deutschland gerne ähnlich mit missliebigen Meinungen verfahren würde. 

Doch was hat er uns zu sagen, dieser Mann des Tabubruchs und enfant terrible unter den deutschen Parteivorsitzenden? Nun, zunächst unternimmt er einen kleinen Exkurs in die Definition des Populismusbegriffs, um schließlich zu konstatieren, dass die AfD selbstverständlich keinen Alleinvertretungsanspruch für “das Volk” habe und demokratische Prozesse respektiere. Dass diese Aussage im krassen Widerspruch zum Auftreten diverser AfD-Politiker steht, geschenkt. Aber Gauland führt nicht eine einzige argumentative Unterfütterung für diesen Punkt an – er behauptet einfach, dass es so sei. Und hofft vielleicht, dass seine langatmige Hinleitung darüber hinwegtäuscht. 

Im weiteren Verlauf brüht der Mann dann eine völlig beliebige Eliten-Kritik nach vorhersehbarem Muster auf, die er an der digitalen Boheme und urbanem Leben festmacht, zu dem angeblich der Zugang für viele versperrt sei. Inwiefern das Erlernen einer Fremdsprache, der Umzug in eine Großstadt oder das Benutzen von Alltags-Technologie nun eine andere Hürde darstellt als andere grundsätzliche Entscheidungen und Handlungen im Leben eines selbstbestimmten Erwachsenen? Die Antwort bleibt Gauland uns schuldig. Ebenso gut hätte er kritisieren können, dass nicht jeder Deutsche ohne eigenes Zutun einen Partner fürs Leben findet oder fünf Orangen gleichzeitig jonglieren kann. Die glücklich verheirateten Orangenjongleure wären wenigstens – anders als “Globalisten” – kein bekanntes Chiffre für die ewigen Klischees der jüdischen Weltverschwörung. Ob beabsichtigt oder nicht: Der schale Beigeschmack der Begriffswelten der “alt right” bzw. neuen Rechten macht aus der Beliebigkeit Gaulands futterneidender Eliten-Kritik eine durch und durch unappetitliche Angelegenheit. 

Zum Schluss zieht der AfD-Vorsitzende noch einmal alle Register der Demokratie-Buzzwords: Freiheit, Rechtsstaat, soziale Sicherheit – diese seien durch das Weltbürgertum bedroht. Vermutlich hielt er es für einen findigen Kniff, den fundamentalen Egoismus seiner Bewegung anzuerkennen, um dann den seiner aus billigen Klischees zusammengestoppelten Feindbilder als viel perfider darzustellen. Warum das so ist? Wieder unklar. 

Die Probleme, die mit der Migration einher gehen, sind unstrittig. Sie zu lösen, ist eine große Aufgabe, vor der insbesondere die CDU-geführte Regierung viel zu lange die Augen verschlossen und einen schlanken Fuß gemacht hat. Es stimmt, dass radikale Islamisten unsere Gesellschaft ebenso bedrohen wie Links- oder Rechtsextremisten. Das sind alles Dinge, über die es gleichzeitig zu keinem Zeitpunkt in den letzten vier Jahren ein Denk- oder Sprechverbot gab, wie sich an den zahlreichen kontroversen Äußerungen zu diesen Themen dokumentieren lässt. Die Unzufriedenheit eines Alexander Gauland, dass seine Sicht und die seiner Wähler so offensichtlich nicht mehrheitsfähig ist, nun in eine Neid-Debatte über “Eliten” zu rühren, deren Zugehörigkeit auf freie Entscheidung über den eigenen Lebensweg gründet, zeichnet ein bekanntes Bild vom Frontmann der AfD: 

Wie zuletzt in seinem inhaltsleeren Sommerinterview zu beobachten, spricht dort ein abgehalfterter, ideenloser Konservativer. Er hat keine Lösungen und auch sonst scheinen ihn die wirklichen Probleme unserer Zeit zu überfordern, weshalb er ihre Prämissen infrage stellt. Globalisierung und Digitalisierung lassen sich allerdings ebenso wenig im Bundestag aus der Realität verbannen wie der Klimawandel oder der Regen in der Heimat an einem Sonntag im Herbst. Dass es ihm nicht einmal gelingt, in der Schriftform einen wirklich klaren Leitgedanken zu fassen und es gerade mal zu einer lauen Beschwörung eines Wir-Gegen-Die reicht, ist das gedruckte Zeugnis der politischen Insolvenz des Alexander Gauland und seiner Partei. Insofern darf man sich bei der FAZ für den Druck bedanken. Und sie ein bisschen bemitleiden. Denn so einen schlechten Text hat diese Zeitung nicht verdient. Das sollte man sogar als taz-Abonnent anerkennen können. 

Ideologische Wahrnehmungstrübung

Was haben ein Cafe und ein Kinderspielplatz in Berlin oder Weihnachtsschokolade mit Wandpoesie gemein? Es sind Beispiele für eine zügellose Empörungskultur, bei denen Menschen sich so sehr in zweifelhafte Teilaspekte von ideologischen Dogmen hineinsteigern, dass ihnen jeglicher Sinn für die Realität abhanden kommt.

Als harmlosere Betrachtung des Sturms im Wasserglas um den bunten Zipfelmann, den der Discounter Penny im diesjährigen Weihnachtssortiment führt, könnte man hier den “Bericht” auf journalistenwatch anführen. An dieser Stelle sei bemerkt, dass dieses vom Rechtskonservativen Böhm betriebenes Blog zur “Gegenöffentlichkeit” – allein der Begriff spricht Bände – vermutlich dankbar war, mal ein anderes Thema als die üblichen Verschwörungsspinnereien zu haben. Entsprechend zurückhaltend wird nur von einem “Traditionsbruch” gesprochen und anhand der erwartbaren Reaktion hyperpolitisierter Facebook-Trolle eine “kritische” öffentliche Reaktion herbeifabuliert. Man darf sich durchaus mal die Frage stellen, wie die Farbgestaltung einer Süßigkeit Menschen derartig in Rage versetzt, dass sie auch nur erwägen, dafür in einem sozialen Netzwerk einen Kommentar zu schreiben.

Es entlarvt aber vor allem den Mythos der “linksgrün-versifften Moralpolizei” (frei nach Pirincci): Manche derer, die sich im Neusprech der geistigen Erben völkisch-nationalistischer Kriegstreiber des vergangenen Jahrhunderts großzügig als “rechts-liberal” bezeichnen, sind nicht minder kleinkariert und in ihren unreflektierten Dogmen gefangen. Der zwanghafte Wunsch, seinen Mitmenschen die eigene Weltsicht bis hin zur korrekt-adventlichen Farbgestaltung zu oktroyieren, widerlegt den pseudoliberalen Etikettenschwindel. Das Gewese um die Verpackung für Weihnachtsschokolade ist ähnlich grotesk wie eine queerfeministische Hausbesetzergruppe, die Sexismus verurteilt und als einzigen Begriff in einer Auflistung ihr missliebiger Personengruppen das Wort “Arschloch” ausschließlich in der männlichen Form benutzt. Es ist der Ausdruck eines Blicks auf die Welt, der reale Probleme ins schier Unendliche überzeichnet und sie dadurch unverrückbar in das Zentrum der eigenen Wahrnehmung stellt. Sie wirken dort wie ein Kaleidoskop, das unabhängig von der betrachteten Situation nur wieder eine Facette des vermeintlichen Problems zeigt. Erstaunlicherweise jedoch nur bei anderen.

In Berlin wird ein Spielplatz mit Märchen-Motiven dekoriert? “Islamisierungsgegner” machen mobil! Dort hat nämlich berechtigte Kritik an der archaisch anmutenden Religionsausübung nicht weniger Muslime und die verständliche Furcht vor islamistischem Terror mittlerweile dazu geführt, dass den Betroffenen dieser fast schon pathologischen Engstirnigkeit angesichts eines Halbmonds direkt das Messer in der Hose aufgeht. Nicht viel ruhmreicher sind studentische Versuche ein Gedicht an einer Hauswand mittels einer etwas ungelenken Auslegung als sexistischen Gesellschaftskommentar entfernen zu lassen. Dass man sich von jedem Germanistik-Erstsemester die Deutungsvielfalt von Gedichten erklären lassen kann, Freiheit von Kunst und eine kritische aber pluralistische Haltung – all dieses muss verschwinden vor dem Absolutismus derer, die Abweichungen gegenüber ihrer eigenen Weltsicht nicht ertragen wollen.

Sich gegenseitig zuzugestehen, anders zu sein, ist die Grundvoraussetzung für das Zusammenleben in einer Gemeinschaft von Individuen. Es ist der Kitt unserer Gesellschaft. Der gemeinsame Nenner muss daher sein, auch einmal auszuhalten, dass nicht alles den eigenen Wertvorstellungen entspricht. Man kann andere Menschen verstehen, ohne einverstanden zu sein. Dann verschwindet auch das Kaleidoskop der ideologisierten Problembetrachtung und wir sehen wieder “klar”: Nur wenn wir uns gegenseitig das Anders-sein zugestehen, können wir selbst individuell sein. Das ist übrigens liberal, ganz ohne Bindestrich.

Zensur, Selbstzensur und das NetzDG

Soziale Netzwerke können beängstigend sein. In der Distanz und Anonymität des Internets kommen nicht wenige Nutzer auf die Idee, auch krudeste Ansichten in die virtuelle Öffentlichkeit zu tragen. Erwartbar wird dabei häufig nicht nur die Grenze des guten Geschmacks sondern auch die der Legalität mindestens touchiert. Wie dies eigentlich auch an jedem Stammtisch der Fall ist. Wer aber nun direkt von dort mit dem Smartphone jeden alkoholumnebelten Gedanken bei Twitter mit der Welt teilen kann, macht sich selbstverständlich nicht immer beliebt. Vor diesem Hintergrund setzte die große Koalition gegen erheblichen Widerstand kurz vor Ende ihrer Legislaturperiode das NetzDG in Kraft: Die Verpflichtung privater Anbieter, “Hasskriminalität” (die versuchte Germanisierung des amerikanischen Terminus hate crime) eigenverantwortlich aus ihren Plattformen zu verbannen. 

Ein unbestimmter und zudem im deutschen Rechtssystem vollkommen unbekannter Rechtsbegriff als Grundlage für die Übertragung hoheitlicher Pflichten – in diesem Fall das Urteil über die rechtliche Zulässigkeit von Meinungsäußerungen – auf Wirtschaftsunternehmen führt nun auch zu den erwarteten Problemen. Reihenweise löschen Twitter, Youtube und Facebook mit der größtmöglichen Intransparenz Beiträge oder sperren direkt deren Verfasser. Die Sperre eines Trump-Vertrauten, der sich vor allem dadurch hervortat, andere Menschen mit wüstem Fäkalvokabular zu beschimpfen, stößt bei Nutzern mit einem Funken Anstand vermutlich noch auf Zustimmung. Kontroverser wird es allerdings, wenn Youtube plötzlich Anti-Homophobie-Videos löscht oder ein Islamkritiker eine Twitter-Sperre erhält. Beiden beispielhaften Vorfällen gemein ist die Reaktion der sozialen Netzwerke, auf öffentlichen Druck hin die Löschung bzw. Sperre rückgängig zu machen. Und das Schweigen der Plattform-Betreiber zu den Gründen ihrer Entscheidungen in jeglicher Hinsicht. Es ist nicht bekannt, wie viele Benutzer ohne öffentliche Wahrnehmung einer gesetzlich gewollten Willkür über die Zulässigkeit ihrer Meinungsäußerung hilflos ausgeliefert sind. Wehren kann sich der Benutzer gegen die digitalen Büttel nämlich nicht ohne Weiteres. Da setzt der eine oder andere vielleicht lieber gleich die Schere im Kopf an und meidet heikle Themen.

Man hätte dies alles antizipieren und eines Rechtsstaats würdige Regelungen finden müssen. Oder den zu Recht vielerorts als Zensur kritisierten Unfug gleich gelassen und lieber in eine Stärkung politischer Bildung im digitalen Raum investiert. Das aktive Unterdrücken missliebiger Meinungen durch den Staat ist sonst nämlich eher ein Kennzeichen autokratischer System. So übt beispielsweise auch die Türkei Druck auf Facebook aus, um unerwünschte Beiträge verschwinden zu lassen.

Doch selbst der Sonderbeauftragte für den Schutz der Meinungsfreiheit bei den Vereinten Nation konnte SPD-Justizminister Maas in seinem heiligen Wahn nicht stoppen. Die sozialdemokratische Grundannahme über die Unmündigkeit des Menschen gipfelt mit Rückendeckung der Christdemokraten im staatlichen Paternalismus. So erscheinen Bürger derartig geistesschwach, dass der Staat ihnen keine kritische Auseinandersetzung mit kontroversen Meinungen mehr zutraut. Also werden ganz im Sinne christlicher Tradition den Schäfchen die großen Fragen des Alltags abgenommen. Den Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, braucht unter SPD und CDU kein Bürger mehr aufbringen.

Blödsinn begegnet man in einer Demokratie allerdings nicht mit Zensur und apodiktischen Wahrheiten, sondern mit den besseren Argumenten. Und das können Bürger viel besser als der Staat. Es muss deshalb eine der ersten Aufgaben der neuen Regierung sein, die Ärmel hochzukrempeln und den Unrat, der sich mit vollem Namen Netzwerkdurchsetzungsgesetz schimpft, an die frische Luft zu befördern. Er droht nämlich der demokratische Debatte in Deutschland den Atem zu rauben. Beleidigungen, Verleumdungen und Volksverhetzung sind und bleiben auch online strafbar – die Verfolgung solcher Delikte aber gehört in die Hände der Staatsgewalt, nicht in die amerikanischer Firmen.

Meinungsfreiheit, die ich meine

Meinungen sind ein schwieriges Thema. Jeder hat eine. Wir reden gerne darüber. Aber weshalb fällt es uns so schwer, die Existenz anderer Meinungen zu akzeptieren, ohne sie zu teilen? Selbst mit grundlegender Küchen-Philosophie ist doch festzustellen, dass eine Meinung per Definition nicht objektiv richtig oder falsch sein kann. Somit muss Meinungsfreiheit zunächst vorbehaltlos gelten. Wird eine Meinung allerdings zum Aufruf zur Straftat, so kann diese durchaus auch jenseits der inhaltlichen Ebene kritikwürdig oder in extremen Fällen gar justiziabel sein.

Auf diesem dünnen Grat wanderte zuletzt “Spiegel Online”-Kolumnistin Sibylle Berg. Irgendwo zwischen berechtigter Warnung, selbstgefälliger Polemik und linkem Salonrevoluzzertum verstieg Frau Berg sich dabei am vergangenen Wochenende dazu, den Dialog mit Rechten nicht nur für gescheitert zu erklären, sondern gleich noch eine “Alternative” zu empfehlen: Antifa-Aktionismus und Schwarzer Block. Ist das noch Meinung oder schon ein Aufruf zur Gewalt, wie der Vorwurf vom anderen Ende des politischen Spektrums lautete? Zumindest lassen fehlende Differenzierung und der kompromisslose Ton der Kolumne letztere Interpretation durchaus zu. Bei der taz werden zur Entkräftung des Vorwurfs Todesopfer rechter Gewalt gegen ausgebrannte Autos aufgerechnet. Ja, Todesopfer sind weitaus schlimmer. Aber das ändert nichts daran, dass Antifa und Schwarzer Block grundsätzlich Gewalt für ein legitimes Mittel zur politischen Auseinandersetzung halten und auch entsprechend einsetzen. Und diese Einstellung will Sibylle Berg uns als Lösung für einen gescheiterten Diskurs verkaufen.

Da in der Gedankenwelt von Frau Berg offenkundig nur ihre eigenen Tautologien existieren, kommt ihr in all ihrer ideologischen Selbstherrlichkeit wohl kaum in den Sinn, dass Gewalt als Konsequenz unaufgelöster Meinungsverschiedenheiten für jede andere Meinung gleichermaßen Anwendung finden würde. Für ausnahmslos jede. Weil alle Ideologen davon überzeugt sind, dass sie als einzige richtig liegen. Zum Beispiel die von ihr so verhassten Neoliberalen: Knüppelt die Geschäftsführung beim nächsten Streik einfach die Belegschaft in die Werkshalle hinein, weil sie der Meinung ist, dass die Mitarbeiter auskömmlich bezahlt werden? Okay, mit Antifa-Methoden brennen vielleicht nur ein paar nicht abgezahlte Familienwagen. Alles halb so wild, ist ja Gewalt gegen Dinge…

Da denkt man doch, dass eine studierte Politikwissenschaftlerin über genügend historischen Kontext und Allgemeinbildung verfügen sollte, um die Vorteile einer Diskussionskultur gegenüber einer gewaltsamen Auseinandersetzung zur gesellschaftlichen Meinungsbildung zu erkennen. Pusteblume. Ein Jahrhundert mit leidvollen Erfahrungen über die Konsequenzen totalitärer Systeme linken wie rechten Anstrichs liegt hinter uns. Und noch immer fällt es schwer, die Lehren daraus zu ziehen.

Wenn also Frau Berg aufgrund unschöner Szenen auf einer Buchmesse empfiehlt, Meinungen im Zweifel auch mit stählerner Faust durchzusetzen, so sollten sich vernunftbegabte Menschen die Frage stellen, wie man einander verstehen kann, ohne einverstanden zu sein. Hoffentlich bevor wir in letzter Konsequenz Internierungslager für Andersdenkende errichten müssen, weil die auch nach Gegendemo, Sitzblockaden und Brandstiftung an ihrer Meinung festhalten. In unserer Gesellschaft ist Meinungsfreiheit ein so hohes Gut, weil sie genau dieses erlaubt: Ich darf anderer Meinung sein. Und muss deshalb weder Besorgt-Bürgersturm noch Antifa-Schwadrone fürchten. Das bedeutet aber auch, dass wir uns bei aller Freiheit auf grundsätzliche Spielregeln einigen müssen. Zum Beispiel die Meinungsfreiheit, die auch für mit der eigenen maximal inkompatible Meinungen gelten muss. Und das staatliche Gewaltmonopol, das den Diskurs als Mittel politischer Auseinandersetzung sichert.

Das alles ließ sich übrigens sehr gut auf besagter Buchmesse nachvollziehen. Zwei Fronten mit totalitärem Wahrheitsanspruch stehen sich gegenüber und werden nur von den Ordnungskräften der Gesellschaft davon abgehalten, einander an die Gurgel zu gehen. Frau Berg hätte vermutlich große Freude daran gehabt, sich mit der anderen Seite im gegenseitigen Niederbrüllen zu messen. Und vor lauter Aktionismus glatt die Erkenntnis verpasst. Dass nämlich Meinungsfreiheit nur funktioniert, wenn alle Beteiligten sie einander zugestehen. Auch und gerade wenn das bei einigen Leuten echt weh tut oder fast unmöglich scheint.

Die rechte Ecke

Wer im persönlichen Umfeld über Politik diskutiert, mag dieses Phänomen kennen: Man spricht mit dem entfernten Bekannten, der Schwägerin oder einem Cousin zweiten Grades. Der herbstliche Grillabend ist voll im Gange und das dritte Bier in der Hand, da bricht es aus den Leuten heraus: Diese Muslime und ihre Kopftücher! Die ganzen Flüchtlinge! Die Nafris am Bahnhof! Ungefragt startet eine politische Kanonade mit Argumenten auf dem Niveau eines AfD-Wahlplakats. Der erwartbare Widerspruch wird mit der gekränkten Bemerkung gekontert, man wolle sich nicht in die rechte Ecke stellen lassen. Das wird man ja wohl noch sagen dürfen.

Liebe Rechte-Ecke-Leugner, ihr geht mir gehörig auf die Nerven. Es gibt eine hinlänglich klare Definition dessen, was politisch rechts ist. Und die erfüllt ihr, wenn ihr der Muslima den Schleier aber nicht dem Clown die Pappnase verbieten wollt. Wenn ihr Flüchtlinge nur dann aufnehmen wollt, wenn es keine arabisch aussehenden jungen Männer ohne Begleitung sind. Wenn ihr Kriminalitätsstatistiken nutzt, um euer latent xenophobes Weltbild zu versachlichen. Dieses ganze verschämte und trotzige Getue ist letztlich doch genau die Bestätigung, dass ihr merkt, wie dünn das Eis ist, auf dem ihr euch bewegt. Weil es eben im Kern darum geht, dass ihr Anderssein ablehnt und das leider nicht rational begründen könnt.

Der Witz ist, dass dieser Abwehrhaltung in vielen Fällen gar keine explizite Einordnung der Meinung oder gar Person als “rechts” vorausgeht. Es ist vielmehr eine Art Beipackzettel, der in vorauseilendem Selbstzweifel schon einmal den Weg zum ideologischen Grabenkampf vorzeichnet. Den kann auch niemand gewinnen, wenn sich eine Seite einfach dem Konsens über eine allgemeine Begriffsdefinition entzieht. Er ist aber bequem, weil sich so die inhaltliche Argumentation erübrigt.

Ich bin der letzte, der jemandem seine Meinung verbietet. Aber ich nenne die Dinge gerne beim Namen. Auf einen politischen Standpunkt wird niemand von einem anderen gestellt. Da stellt sich jeder selbst hin. Mit seiner Meinung, mit seiner Haltung und seinen Aussagen. Und sollte dann auch das Rückgrat haben, sich mit Kritik an der eigenen Position auseinanderzusetzen statt diese zu verleugnen. Vor allem, wenn es eine engstirnige und kurzsichtige Haltung ist, die Herkunft oder Religion als zentralen Bewertungsmaßstab von Menschen heranzieht. Da kann man noch so viele Sachargumente ins Feld führen, es bleibt eine zutiefst fragwürdige Grundhaltung, die im Kern alle Errungenschaften moderner Gesellschaften und die Lehren aus zwei Weltkriegen in Frage stellt. Doch diese Problematik wird bequem wegdefiniert: “Stell mich nicht in die rechte Ecke” ist die argumentative Selbstaufgabe, bei der es nicht mehr um eine sachliche Debatte, sondern nur noch um die Bestätigung einer Opferhaltung geht. Aus der heraus argumentiert es sich natürlich noch viel besser jenseits von Anstand und Moral. Auch nach drei Bier ist das ein Armutszeugnis.

Diskussionskultur in sozialen Medien

Gefühlt ist dieses Thema ein Dauerbrenner. Die Initiative #ichbinhier wurde zuletzt für ihren Einsatz für eine sachliche Diskussion auf Facebook mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet. Das Problem ist ein ernst zu nehmendes. Denn in den Kommentarspalten großer Medien geht es wüst zu. Bewusste Provokationen rufen reflexartige Grabenkämpfe zwischen Fraktionen hervor, die sich insbesondere dadurch hervortun, den jeweils anderen in Worthülsen-Schubladen zu stecken. Wer (unabhängig vom eigenen Standpunkt) zur Mäßigung aufruft, ist per se ein Gutmensch. Wer ein bisschen kontrovers argumentiert, mindestens ein verkappter irgendwas-radikaler. Linke gegen Rechte, Christen gegen Moslems, Deutsche gegen Ausländer, Wessis gegen Ossis…

Bereitwillig entziehen sich die Beteiligten einer Sachdiskussion und wetteifern um die beste Rhetorik, die fehlerfreisten Formulierungen oder die schaurigsten Unterstellungen. Dabei geht ein entscheidender Pfeiler der öffentlichen Debatte unter. Wir müssen als Gesellschaft wieder verstehen, wie wir uns auch im Dissens konstruktiv austauschen können. Nur so können wir einen funktionierenden Meinungspluralismus erhalten, der letztlich auf allen Ebenen des Zusammenlebens in einer Gesellschaft erforderlich ist.  Eine persönliche Distanzierung von Meinungen ist dadurch nicht ausgeschlossen, aber sie erfolgt mit dem nötigen Respekt für andere und ohne einen totalitären Wahrheitsanspruch. “Verstehen, ohne einverstanden zu sein”. Das ist auch gar nicht so schwierig, wenn wir anderen Leuten auch eine komplett gegenteilige Meinung zugestehen. Und nicht mit bequemen Schubladen den eigentlichen Inhalten aus dem Weg gehen.