Was haben ein Cafe und ein Kinderspielplatz in Berlin oder Weihnachtsschokolade mit Wandpoesie gemein? Es sind Beispiele für eine zügellose Empörungskultur, bei denen Menschen sich so sehr in zweifelhafte Teilaspekte von ideologischen Dogmen hineinsteigern, dass ihnen jeglicher Sinn für die Realität abhanden kommt.
Als harmlosere Betrachtung des Sturms im Wasserglas um den bunten Zipfelmann, den der Discounter Penny im diesjährigen Weihnachtssortiment führt, könnte man hier den “Bericht” auf journalistenwatch anführen. An dieser Stelle sei bemerkt, dass dieses vom Rechtskonservativen Böhm betriebenes Blog zur “Gegenöffentlichkeit” – allein der Begriff spricht Bände – vermutlich dankbar war, mal ein anderes Thema als die üblichen Verschwörungsspinnereien zu haben. Entsprechend zurückhaltend wird nur von einem “Traditionsbruch” gesprochen und anhand der erwartbaren Reaktion hyperpolitisierter Facebook-Trolle eine “kritische” öffentliche Reaktion herbeifabuliert. Man darf sich durchaus mal die Frage stellen, wie die Farbgestaltung einer Süßigkeit Menschen derartig in Rage versetzt, dass sie auch nur erwägen, dafür in einem sozialen Netzwerk einen Kommentar zu schreiben.
Es entlarvt aber vor allem den Mythos der “linksgrün-versifften Moralpolizei” (frei nach Pirincci): Manche derer, die sich im Neusprech der geistigen Erben völkisch-nationalistischer Kriegstreiber des vergangenen Jahrhunderts großzügig als “rechts-liberal” bezeichnen, sind nicht minder kleinkariert und in ihren unreflektierten Dogmen gefangen. Der zwanghafte Wunsch, seinen Mitmenschen die eigene Weltsicht bis hin zur korrekt-adventlichen Farbgestaltung zu oktroyieren, widerlegt den pseudoliberalen Etikettenschwindel. Das Gewese um die Verpackung für Weihnachtsschokolade ist ähnlich grotesk wie eine queerfeministische Hausbesetzergruppe, die Sexismus verurteilt und als einzigen Begriff in einer Auflistung ihr missliebiger Personengruppen das Wort “Arschloch” ausschließlich in der männlichen Form benutzt. Es ist der Ausdruck eines Blicks auf die Welt, der reale Probleme ins schier Unendliche überzeichnet und sie dadurch unverrückbar in das Zentrum der eigenen Wahrnehmung stellt. Sie wirken dort wie ein Kaleidoskop, das unabhängig von der betrachteten Situation nur wieder eine Facette des vermeintlichen Problems zeigt. Erstaunlicherweise jedoch nur bei anderen.
In Berlin wird ein Spielplatz mit Märchen-Motiven dekoriert? “Islamisierungsgegner” machen mobil! Dort hat nämlich berechtigte Kritik an der archaisch anmutenden Religionsausübung nicht weniger Muslime und die verständliche Furcht vor islamistischem Terror mittlerweile dazu geführt, dass den Betroffenen dieser fast schon pathologischen Engstirnigkeit angesichts eines Halbmonds direkt das Messer in der Hose aufgeht. Nicht viel ruhmreicher sind studentische Versuche ein Gedicht an einer Hauswand mittels einer etwas ungelenken Auslegung als sexistischen Gesellschaftskommentar entfernen zu lassen. Dass man sich von jedem Germanistik-Erstsemester die Deutungsvielfalt von Gedichten erklären lassen kann, Freiheit von Kunst und eine kritische aber pluralistische Haltung – all dieses muss verschwinden vor dem Absolutismus derer, die Abweichungen gegenüber ihrer eigenen Weltsicht nicht ertragen wollen.
Sich gegenseitig zuzugestehen, anders zu sein, ist die Grundvoraussetzung für das Zusammenleben in einer Gemeinschaft von Individuen. Es ist der Kitt unserer Gesellschaft. Der gemeinsame Nenner muss daher sein, auch einmal auszuhalten, dass nicht alles den eigenen Wertvorstellungen entspricht. Man kann andere Menschen verstehen, ohne einverstanden zu sein. Dann verschwindet auch das Kaleidoskop der ideologisierten Problembetrachtung und wir sehen wieder “klar”: Nur wenn wir uns gegenseitig das Anders-sein zugestehen, können wir selbst individuell sein. Das ist übrigens liberal, ganz ohne Bindestrich.