Vor vielen Jahrhunderten bestand das heutige Deutschland aus einem Flickenteppich germanischer Bauern in losen Zusammenschlüssen von der Größe eines Dorfes. Wenn man einer gängigen Lesart folgen mag, so bestand ein nicht unwesentlicher Zeitvertreib der germanischen Stämme darin, sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen. Wir sind durch Jahrhunderte leidvoller Erfahrungen mit Kriegen und autoritären Regierungen schließlich zu einem föderalen Staatenverbund herangewachsen, der auf einer simplen Grundannahme beruht: Gemeinsam sind wir stärker! Die großen Probleme unseres Alltags sind nämlich nicht mehr der Kampf ums Überleben oder einen Flecken Land. Deshalb ist es hierzulande auch aus der Mode gekommen, Streitigkeiten mit dem Nachbarn durch blutige Familienfehden auszutragen.
Darauf weist mancher Bewahrer des Abendlandes schließlich auch gerne hin, wenn es um Abgrenzung zu stereotypisierten Kulturkreisen geht, deren Vertretern solches Verhalten evidenzbasiert der Einfachheit in der Konstruktion simpler Feindbilder halber allgemein angelastet wird. Ob diese Form zivilisierten Umgangs miteinander eine singuläre Eigenschaft europäischer Hochkultur ist, darf außerhalb bierseeliger Stammtische bezweifelt werden. Umso erstaunlicher ist es, dass die größten Verfechter dieser unserer Kultur zugleich die absurdesten Widersprüche dazu propagieren: Ein Europa der Vaterländer, so die durch erstarkende Rechte pervertierte Vision de Gaulles. Was klingt wie eine Boulevard-Schlagzeile, entbehrt in ähnlicher Weise fundierter Überlegung und Substanz. Es ist ein verschwurbelter Nationalismus, der sich in diesem geschichtsvergessenen Wortspiel die Bahn bricht: Dieses Europa von Nationen, die Eigeninteressen zur Maxime des Handelns erhoben, prägte eine Ära der Kriege, die stets die folgerichtige Konsequenz aus der Unfähigkeit zu Kooperation und Kompromiss waren.
Wenn es eine zentrale Erkenntnis aus dem andauernden Frieden in vielen Jahrzehnten der Europäischen Union gibt, dann diese: Übergeordnete Probleme lösen wir deshalb am besten für möglichst viele Menschen gemeinsam. Das dafür notwendige Ringen um einen Kompromiss bedeutet für jeden auch ein Abrücken von der eigenen Position. Insgesamt aber profitieren am Ende die meisten Beteiligten, nicht zuletzt durch den Verzicht auf kriegerische Auseinandersetzung. Ein wichtiger Aspekt des Föderalismus ist dabei die Lösung lokaler oder regionaler Probleme auf eben dieser Ebene. Die Entscheidung zur Neugestaltung eines Parks oder den Bau einer Umgehungsstraße ist nicht sinnvoll zentral zu organisieren. In der richtigen Balance zwischen lokaler Autonomie und übergreifendem Konsens scheiden sich die Geister. Wir können und sollten sie stets neu verorten, ohne das Gesamtkonstrukt in Frage zu stellen.
Machiavelli stellte bereits fest: Wenn du etwas verändern möchtest, machst du dir diejenigen zum Feind, die vom Status Quo profitieren. Vor diesem Hintergrund müssen wir auch Aussagen von Gegnern eines europäischen Föderalismus besonders kritisch hinterfragen. Wer heute die Macht und den Einfluss auf nationaler Ebene in seiner Person bündelt, wird sehr kreativ darin sein, scheinbar sachliche Gründe gegen eine Abgabe von Verantwortung ins Feld zu führen. Die katalonischen Separatisten sind ein hervorragendes Beispiel: Carles Puigdemont würde mit der Unabhängigkeit von Spanien enorm an Einfluss gewinnen. Er trüge gleichzeitig zur Rückkehr der unter großen Mühen überwundenen Kleinstaaterei bei. Sehen wir die Zukunft Europas tatsächlich in einem Flickenteppich von Regionalfürsten, die sich über kurz oder lang gegenseitig die fruchtbarsten Ackerböden neiden?
Die Bürger innerhalb Europas haben es in der Hand: Mit der Wahl des europäischen Parlaments können am 26. Mai auch alle Wahlberechtigten in Deutschland die Weichen stellen. Statt inhärent widersprüchlicher Positionen europa”kritischer” Parteien, deren Kritik im Wesentlichen der eigenen Einflusssteigerung dient und die als Alternative die dunkle Vergangenheit bieten, braucht es hier Gestalter und wirkliche Visionäre, die nicht zurück, sondern nach vorne blicken. Es gibt viel zu tun in Europa und in der Welt. Und es beginnt mit der Wahl von denjenigen, die nicht lamentieren, sondern die Ärmel hochkrempeln und trotz inhaltlicher Differenzen zusammen mit den anderen anpacken. Dabei zu unterstützen haben alle Europäer selbst in der Hand.