Planlos in der Pandemie

Morgen ist es also so weit: Der zweite Corona-Lockdown tritt deutschlandweit in Kraft. Wir alle werden uns wie schon im Frühjahr mit teils sehr drastischen Einschränkungen in unserem Alltag abfinden müssen. Jenseits von absurden Verschwörungstheorien und dem Leugnen von Realität bleibt Platz für eine berechtigte Kritik an den politischen Entscheidungen von Bundesregierung und Ministerpräsidenten. Hier lassen sich zwei Strömungen unterscheiden:

Die eine richtet sich auf die grundsätzliche Frage, ob – stark vereinfacht – die Gefahr für Menschenleben die zu erwartenden massiven sozialen und wirtschaftlichen Folgen aufwiegt. Diese Fragestellung erscheint zunächst als Selbstverständlichkeit, angesichts des Stellenwerts menschlichen Lebens. Andererseits kann und will unsere Gesellschaft nicht alle Lebensrisiken ausschließen, die uns im Alltag begegnen. Sonst müssten wir alle Verkehrsmittel abschaffen, Brotmesser unter das Waffengesetz stellen und Alkohol verbieten. Es erfolgt also sehr wohl eine Abwägung unterschiedlicher Rechtsgüter, bei der auch das Leben nicht sakrosankt ist. Die Mehrheit der Menschen allerdings befürwortet im Falle von Corona die Entscheidung zugunsten des menschlichen Lebens. Diese demokratische Realität sollte man auch anerkennen, wenn man anderer Meinung ist.

Die andere Richtung der Kritik stellt die Notwendigkeit von Maßnahmen nicht grundsätzlich in Frage, sie zielt vielmehr auf das Zustandekommen der Regeln einerseits und ihre konkrete Ausgestaltung andererseits. Hier vertrat zuletzt insbesondere die FDP aber auch Grüne und selbst SPD im Bundestag die Kritiker: Die unter der im Frühjahr völlig unklaren Situation beschlossenen Exekutiv-Befugnisse waren richtig, um die Situation irgendwie unter Kontrolle zu bekommen. Nun werden sie erneut genutzt, um zwischen Regierung und Ministerpräsidenten der Länder entsprechende Maßnahmen zu vereinbaren. Da ist zwar eine Form der demokratischen Legitimation erkennbar, da der Bundestag grundsätzlich diese Befugnisse erteilt hat, allerdings bleibt ein schaler Beigeschmack:

Den gesamten Sommer über war die Steigerung der Infektionszahlen im Herbst absehbar. Union und SPD hätten also genügend Zeit gehabt, konkrete Regelungen abhängig vom Infektionsgeschehen zu definieren und als verlässlichen gesetzlichen Regelungsrahmen durch den Bundestag zu bringen. So hätte eine breite Debatte erfolgen können, entsprechende Kommunikation vorbereitet werden können, Menschen und Unternehmen hätten sich darauf einstellen können. Ein gutes Beispiel dafür ist der Corona-Stufenplan in Irland. Dass die große Koalition unter Angela Merkel das verpasst hat, ist ein bedauerliches Versäumnis.

Maßnahmen werden also wieder sehr kurzfristig definiert – man könnte das aktionistisch nennen – und lassen Raum für Fragen. Während Gottesdienste erlaubt sind, müssen Theater und Restaurants schließen. Das lässt sich grundgesetzlich alles irgendwie begründen, ist mit Blick auf das Infektionsgeschehen aber überhaupt nicht zu rechtfertigen. Zur Erklärung wird dazu angeführt, dass in den deutschen Statistiken bei drei von vier Infektionen die Quelle unbekannt ist. Auch wenn Restaurants in den bekannten Zahlen eine völlig untergeordnete Rolle spielen und sicherlich aufgrund der Gästelisten nicht weniger gut nachvollziehbar als Familienfeste sind. Dies führt direkt zum nächsten Versäumnis der Bundesregierung: Warum wurden diese Daten über die vergangenen Monate nicht gezielt erhoben oder wird dies wenigstens jetzt mit großem Nachdruck angegangen?

Konkret wird dieses Problem an der drohenden Aufhebung verschiedener Regeln durch Gerichte. Schon in der Vergangenheit wurden Regelungen wie das Beherbergungsverbot gekippt, weil “der Aufenthalt dort [im Hotel] für die Verbreitung des Virus nicht erheblich ursächlich sei”. Es steht zu befürchten, dass sich die mangelnde Belastbarkeit der Sonderrechte nach dem Infektionsschutzgesetz und fehlende Begründbarkeit einzelner Maßnahmen nun rächt. Im schlimmsten Falle entsteht im Wechselspiel aus Gerichtsurteilen und Nachregelungen auf Länderebene ein täglich neuer föderaler Flickenteppich, der selbst für gut informierte Bürger, die sich täglich aktiv informieren, nicht mehr nachvollziehbar ist. Wie man hier diejenigen erreicht, die nicht jeden Tag mehrfach Nachrichten lesen oder nicht gut deutsch verstehen, bleibt unklar und ist ein steigendes Risiko für die Akzeptanz der Regeln.

Daneben muss man sich fragen, was weitere Verschärfungen der Regeln bezwecken, wenn die bereits bestehenden nicht konsequent angewendet werden: Gestern in Dresden protestierten die “Querdenker”, eine unappetitliche Melange aus esoterischen Bachblüten-Schwurblern und rechtsradikalem Pegida-Klientel, gegen die Corona-Maßnahmen. Das ist ihr gutes Recht in unserer Demokratie. Dass allerdings die Pflicht zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutz nicht durchgesetzt wird, ist eine mehr als befremdliche Haltung der Behörden nicht nur in Sachsen. Ähnliche Szenen kennt man aus Berlin. Zur Akzeptanz von Regeln gehört auch ihre Durchsetzung.

Die Corona-Pandemie ist zweifelsohne eine elementare Herausforderung für unsere Gesellschaft. Deshalb braucht es eine geordnete, planvolle Herangehensweise durch die Politik. Sie beginnt damit, dass die Bundesregierung endlich aufhört von Tag zu Tag nur zu reagieren und statt dessen eine langfristige Planung bis mindestens in den nächsten Sommer hinein vorlegt. Maßnahmen müssen darin begründet und vorhersehbar dargelegt sein, auf regionale Unterschiede eingehen und sich idealerweise in einem gesamteuropäischen Regelungsrahmen zur Pandemie-Bekämpfung einbetten lassen. Dieses über die Legislative zu beschließen, sichert die Regeln gegenüber Gerichten und ebnet den Weg für eine konsequente Anwendung. Es gibt uns allen die Sicherheit, mit was wir rechnen können. Und es hilft mündigen Bürgern dabei, eigenverantwortlich die Kennzahlen im Blick zu halten und entsprechend zu agieren, um einen dritten Lockdown zu verhindern.

Versäumnisse in der Vergangenheit lassen sich nicht verändern. Aber an ihrer Fähigkeit daraus zu lernen wird sich entscheiden, ob das zuletzt so hoch gelobte Krisenmanagement von Angela Merkel auch langfristig funktioniert. Wir haben einen langen November vor uns, der in diesem Sinne unbedingt genutzt werden muss.

Zukunft Europa

Vor vielen Jahrhunderten bestand das heutige Deutschland aus einem Flickenteppich germanischer Bauern in losen Zusammenschlüssen von der Größe eines Dorfes. Wenn man einer gängigen Lesart folgen mag, so bestand ein nicht unwesentlicher Zeitvertreib der germanischen Stämme darin, sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen. Wir sind durch Jahrhunderte leidvoller Erfahrungen mit Kriegen und autoritären Regierungen schließlich zu einem föderalen Staatenverbund herangewachsen, der auf einer simplen Grundannahme beruht: Gemeinsam sind wir stärker! Die großen Probleme unseres Alltags sind nämlich nicht mehr der Kampf ums Überleben oder einen Flecken Land. Deshalb ist es hierzulande auch aus der Mode gekommen, Streitigkeiten mit dem Nachbarn durch blutige Familienfehden auszutragen.

Darauf weist mancher Bewahrer des Abendlandes schließlich auch gerne hin, wenn es um Abgrenzung zu stereotypisierten Kulturkreisen geht, deren Vertretern solches Verhalten evidenzbasiert der Einfachheit in der Konstruktion simpler Feindbilder halber allgemein angelastet wird. Ob diese Form zivilisierten Umgangs miteinander eine singuläre Eigenschaft europäischer Hochkultur ist, darf außerhalb bierseeliger Stammtische bezweifelt werden. Umso erstaunlicher ist es, dass die größten Verfechter dieser unserer Kultur zugleich die absurdesten Widersprüche dazu propagieren: Ein Europa der Vaterländer, so die durch erstarkende Rechte pervertierte Vision de Gaulles. Was klingt wie  eine Boulevard-Schlagzeile, entbehrt in ähnlicher Weise fundierter Überlegung und Substanz. Es ist ein verschwurbelter Nationalismus, der sich in diesem geschichtsvergessenen Wortspiel die Bahn bricht: Dieses Europa von Nationen, die Eigeninteressen zur Maxime des Handelns erhoben, prägte eine Ära der Kriege, die stets die folgerichtige Konsequenz aus der Unfähigkeit zu Kooperation und Kompromiss waren.

Wenn es eine zentrale Erkenntnis aus dem andauernden Frieden in vielen Jahrzehnten der Europäischen Union gibt, dann diese: Übergeordnete Probleme lösen wir deshalb am besten für möglichst viele Menschen gemeinsam. Das dafür notwendige Ringen um einen Kompromiss bedeutet für jeden auch ein Abrücken von der eigenen Position. Insgesamt aber profitieren am Ende die meisten Beteiligten, nicht zuletzt durch den Verzicht auf kriegerische Auseinandersetzung. Ein wichtiger Aspekt des Föderalismus ist dabei die Lösung lokaler oder regionaler Probleme auf eben dieser Ebene. Die Entscheidung zur Neugestaltung eines Parks oder den Bau einer Umgehungsstraße ist nicht sinnvoll zentral zu organisieren. In der richtigen Balance zwischen lokaler Autonomie und übergreifendem Konsens scheiden sich die Geister. Wir können und sollten sie stets neu verorten, ohne das Gesamtkonstrukt in Frage zu stellen. 

Machiavelli stellte bereits fest: Wenn du etwas verändern möchtest, machst du dir diejenigen zum Feind, die vom Status Quo profitieren. Vor diesem Hintergrund müssen wir auch Aussagen von Gegnern eines europäischen Föderalismus besonders kritisch hinterfragen. Wer heute die Macht und den Einfluss auf nationaler Ebene in seiner Person bündelt, wird sehr kreativ darin sein, scheinbar sachliche Gründe gegen eine Abgabe von Verantwortung ins Feld zu führen. Die katalonischen Separatisten sind ein hervorragendes Beispiel: Carles Puigdemont würde mit der Unabhängigkeit von Spanien enorm an Einfluss gewinnen. Er trüge gleichzeitig zur Rückkehr der unter großen Mühen überwundenen Kleinstaaterei bei. Sehen wir die Zukunft Europas tatsächlich in einem Flickenteppich von Regionalfürsten, die sich über kurz oder lang gegenseitig die fruchtbarsten Ackerböden neiden?

Die Bürger innerhalb Europas haben es in der Hand: Mit der Wahl des europäischen Parlaments können am 26. Mai auch alle Wahlberechtigten in Deutschland die Weichen stellen. Statt inhärent widersprüchlicher Positionen europa”kritischer” Parteien, deren Kritik im Wesentlichen der eigenen Einflusssteigerung dient und die als Alternative die dunkle Vergangenheit bieten, braucht es hier Gestalter und wirkliche Visionäre, die nicht zurück, sondern nach vorne blicken. Es gibt viel zu tun in Europa und in der Welt. Und es beginnt mit der Wahl von denjenigen, die nicht lamentieren, sondern die Ärmel hochkrempeln und trotz inhaltlicher Differenzen zusammen mit den anderen anpacken. Dabei zu unterstützen haben alle Europäer selbst in der Hand.